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BGH: Kein Archivprivileg für unzulässige Verdachtsberichterstattung

BGH: Kein Archivprivileg für unzulässige Verdachtsberichterstattung

In Onlinemagazinen und -archiven sind Berichte über Strafverfahren auch noch Jahre nach deren Abschluss abrufbar. Dass das in den meisten Fällen zulässig ist, hat der Bundesgerichtshof (BGH) in mehreren Entscheidungen bestätigt. Eine Ausnahme von dieser Regel hat das Gericht in einer jüngst bekannt gewordenen Entscheidung (BGH, Urteil vom 16. Februar 2016, Az. VI ZR 367/15) für Fälle der von der ersten Veröffentlichung an unzulässigen Verdachtsberichterstattung aufgestellt.

Um welche Verdachtsberichterstattung ging es?

Die Klage angestrengt hatte ein bundesweit bekannter Fußballprofi, gegen den im Jahr 2012 ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen eingeleitet wurde. Wohl auch aufgrund der Prominenz des Beschuldigten war dieses Ermittlungsverfahren Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung. In einem von der Beklagten betriebenen Online-Nachrichtenportal wurden mehrere Berichte über das Verfahren veröffentlicht, in denen der Beschuldigte jeweils mit seinem Klarnamen genannt wurde.

Im Zuge der Ermittlungen konnte die Staatsanwaltschaft keinen hinreichenden Tatverdacht erkennen und stellte das Ermittlungsverfahren nach nur drei Monaten gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein. Die von der Beklagten im Internet über das Verfahren veröffentlichten Berichte blieben weiterhin abrufbar, sie wurden lediglich um einen Hinweis der Redaktion ergänzt, nachdem das Ermittlungsverfahren zwischenzeitlich eingestellt worden sei.

Diesen Hinweis allein reichte dem Kläger nicht. Er verlangte von der Beklagten die vollständige Löschung der Beiträge. Diesem Verlangen kam die Beklagte, unter Hinweis auf die bisherige in diesem Zusammengang ergangene Rechtsprechung des BGH, nicht nach.

BGH weicht von bisheriger Spruchpraxis ab

Der Bundesgerichtshof entschied – abweichend von seiner bisherigen Praxis – zugunsten des Klägers, hob das Urteil des Revisionsgerichts auf und verwies die Angelegenheit zur erneuten Verhandlung dorthin zurück. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass bereits die erste Veröffentlichung der beanstandeten Berichte unzulässig gewesen sei und damit auch die Bereitstellung der Beiträge in einem Online-Archiv nicht habe zulässig sein können.

Besonders strenge Maßstäbe für Verdachtsberichterstattung

Für die Berichterstattung über ein Ermittlungsverfahren gelten besonders strenge Maßstäbe. Eingeleitet wird dieses bereits bei einem gegen den Beschuldigten bestehenden Anfangsverdacht. Noch nicht geklärt ist zu diesem Zeitpunkt, ob der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Tat begangen hat. Es ist daher durchaus möglich, dass sich der gegen den Beschuldigten bestehende Anfangsverdacht im Laufe der Ermittlungen nicht bestätigt und das Verfahren daraufhin eingestellt wird.

In diesem frühen Stadium der Ermittlungen birgt die Berichterstattung über ein Strafverfahren daher immer das Risiko einer Vorverurteilung und der damit einhergehenden Stigmatisierung des Beschuldigten in den Augen der Öffentlichkeit. Dieser Gefahr müssen die berichtenden Medien Rechnung tragen und ihre Berichte entsprechend vorsichtig formulieren. Keinesfalls darf durch die Berichterstattung der Eindruck entstehen, dem Täter könne die Tat bereits nachgewiesen werden.

Berufung auf öffentliche Quellen alleine nicht ausreichend

Diese Vorgabe hat die Beklagte nach Auffassung des BGH vorliegend nicht erfüllt. Zwar berief sich die Beklagte darauf, die Informationen über das Ermittlungsverfahren direkt von der Staatsanwaltschaft erhalten und daher auf die Zuverlässigkeit der Angaben vertraut zu haben. Das ist grundsätzlich auch nicht verkehrt: Geben öffentliche Behörden Informationen über ein Strafverfahren an die Öffentlichkeit, gelten diese Informationen als besonders sicher. Denn öffentliche Behörden sind in verstärktem Maße dazu angehalten, die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten gegen das Informationsinteresse der Öffentlichkeit abzuwägen.

Aber allein auf die Quelle dürfen sich die Medien, so der BGH in der vorliegenden Entscheidung, bei der Verdachtsberichterstattung über Ermittlungsverfahren auch dann nicht verlassen, wenn es sich bei dieser um die Polizei oder Staatsanwaltschaft handelt. Auch in diesem Fall ist es erforderlich, dass die Medien die Zulässigkeit der Veröffentlichung noch einmal eigenständig prüfen. Das gilt insbesondere dann, wenn die Veröffentlichung unter Nennung des Klarnamens des Beschuldigten erfolgen soll.

Hinweis auf Verfahrenseinstellung nicht ausreichend

Nicht ausreichend ist nach Auffassung des Gerichts der von der Beklagten in einer Fußzeile zu den Berichten veröffentlichte Hinweis auf die mittlerweile erfolgte Einstellung des Strafverfahrens. Ein solcher Hinweis soll nicht geeignet sein, den Eindruck des Lesers, der Tatvorwurf sei doch in irgendeiner Weise berechtigt gewesen, vollständig auszuräumen.

Dies könne nur durch die vollständige Löschung der beanstandeten Beiträge erreicht werden, nach einer Verfahrenseinstellung mangels hinreichenden Tatverdachts ist kein anerkennenswerter Grund für die fortdauernde Abrufbarkeit im Internet mehr gegeben. Es besteht kein Interesse der Öffentlichkeit mehr an der Information darüber, dass gegen den Beschuldigten ein Verfahren geführt wurde.

Anspruch auf Löschung nicht ausgeschlossen

Mit dieser Entscheidung hat der BGH die bei einer Verdachtsberichterstattung bestehende besondere Prüfpflicht auch auf die Betreiber von Online-Archiven ausgedehnt. Sie können sich nicht darauf verlassen, dass die Veröffentlichung von Berichten über Ermittlungsverfahren in ihrem Archiv generell zulässig ist. Kann ein in einem solchen Verfahren Beschuldigter nachweisen, dass bereits die Berichterstattung über das Verfahren unzulässig war, müssen die beanstandeten Berichte aus dem Archiv gelöscht werden.

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